Mutismus nach dem Diathese-Stress-Modell
Stress ist keine konstante Größe, sondern individuell
unterschiedlich hinsichtlich Ursache, Intensität und Qualität. So können
bestimmte Umwelteinflüsse (Reize), die das Individuum zu
Anpassungsleistungen herausfordern, entweder als positiv (Eustress) oder
als negativ (Dysstress) empfunden werden. Entscheidend für das
jeweilige Reaktionsverhalten auf einen Stressor ist die unterschiedliche
Gewichtung von Ereigniswahrnehmung und Ressourcenwahrnehmung.
Beispiel
Schweigt ein Kind in der Schule hartnäckig und häufig
über Jahre hinweg, während es im familiären Umfeld spricht, lässt sich
die mutistische Symptomatik nach dem Diathese-Stress-Modell derart
interpretieren, dass
- die primäre Einschätzung (primary appraisal, auch Ereigniswahrnehmung) der Unterrichtssituation und die damit erfahrenen Anforderungen an kommunikative Kompetenzen, Dialogfähigkeit und rhetorisches Ausdrucksvermögen sowie
- die zweite Einschätzung der eigenen Ressourcen (secondary appraisal, auch Ressourcenwahrnehmung) wie kommunikative Unsicherheit z.B. aufgrund von Artikulationsstörungen, Dysgrammatismen, Stottern oder Bilingualität zu einer derart starken Bedrohung führen, dass die einzige
- unbewusste Bewältigungs- bzw. Copingstrategie das Vermeidungsverhalten Mutismus ist.
Stress und eine vulnerable Bewältigung entstehen immer dort, wo die
Ressourcenwahrnehmung aufgrund von Einschränkungen und Belastungen der
Ereigniswahrnehmung unterliegt. Die Bewältigung dieser als bedrohlich
wirkenden Situation zeigt sich jedoch nur in jenen Fällen als
vermeidendes Schweigen, in denen eine familiäre Disposition für ein
gehemmtes, kommunikativ zurückgezogenes, introvertiertes, aber auch
depressives und durch Angst gekennzeichnetes Verhalten vorliegt.
Das Diathese-Stress-Modell und seine Implikationen für den Mutismus lassen sich folgendermaßen darstellen (s. Abb. 1):
Die fünf Parameter, die bei der Bewertung eines auf die Person
bezogenes interaktiven Ereignisses relevant sind und die
Ressourcenwahrnehmung direkt beeinflussen, sind:
Physische Konstitution: Der somatische Entwicklungsstand stellt das
Fundament für den gesamtpersonalen Reifungsprozess dar. Körperliche
Retardierungen, schwere Sprachentwicklungsstörungen oder intellektuelle
Defizite aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung können die
seelische Befindlichkeit und damit die Ressourceneinschätzung
beeinflussen. Die Häufung von Sprachstörungen bei mutistischen Kindern
scheint für einen locus minoris resistentiae im Hinblick auf die
Entwicklung von sprachlichen Verarbeitungsprozessen zu sprechen. Eine
andere physische Komponente, die bei der Ätiologie des totalen
Schweigens vorzufinden ist, sind psychotische Grunderkrankungen. Als
häufigster somatologischer Verursachungsfaktor ist die hereditäre
Prädisposition für ein sprachlich introvertiertes, ängstliches
Verhalten zu nennen, das sich vor allem in der Furcht vor ungewohnten
sozialen Kontakten (z.B. Einschulung), d.h. in der insuffizienten Selbstwirksamkeitserwartung, äußert.
Psychische Konstitution: Die kognitive, seelische und emotionale
Befindlichkeit definiert die Ich-Stärke eines Individuums und trägt
damit entscheidend zur Bewertung von Krisensituationen bei. Seelische
Spannungszustände (z.B. Depressionen oder Ängstlichkeit) lassen ein Ereignis (z.B. Einschulung) schnell zu einer unüberwindbaren Herausforderung werden, es wird mit Schweigen reagiert.
Soziale Konstitution: Die Qualität der interaktiven bzw.
interpersonellen Kontakte prägt entscheidend die sozialen
Verhaltensmuster eines Individuums und damit die soziale Integration.
Aufgebaute soziale Netzwerke können die Krisensituation und deren
subjektive Bewertung abschwächen, Isolation lässt einen Menschen
unerfahren im sozialen Miteinander werden. Interaktive Ereignisse (z.B.
Einschulung) können bei familiären Isolationstendenzen und einem
reduzierten Verhaltensrepertoire zu einer negativen
Ressourceneinschätzung ("Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll")
und damit zu einer vulnerablen Bewältigung (Mutismus) führen.
Erfahrungen: Eine große Bedeutung bei der Ressourceneinschätzung ist das
Potential an Erfahrungen, das sich im interaktiven Geschehen
entwickelt. Liegen Erfahrungen zur kontrollierenden Bewältigung vor, ist
die betroffene Person in der Lage, diese an ähnliche Situationen zu
adaptieren und Generalisierungseffekte bei neu auftretenden Ereignissen
zu erzielen. Beispiel: Die Einschulung wird vom Kind in ähnlicher Weise
gemeistert wie der Eintritt in den Kindergarten. Sind dagegen die
Erfahrungen negativ geprägt und keine theoretischen
Lösungskonstruktionen entwickelt worden, ist die vulnerable Bewältigung
wahrscheinlich. Beispiel: Das in Verbindung mit dem Eintritt in den
Kindergarten entstandene Schweigen wird durch die Einschulung verstärkt.
Objektive Bewältigungspotenzen: Schließlich hängen die subjektiven
Bewertungen der eigenen Bewältigungspotentiale von den objektiv
vorhandenen Bewältigungspotenzen ab. Liegen bei sachlicher Betrachtung
nur sehr reduzierte oder gar keine Bewältigungsmöglichkeiten vor, so ist
eine kontrollierende Bewältigung eines zur Interaktion zwingenden
Ereignisses unwahrscheinlich. Als Beispiel kann hier der (s)elektive
Mutismus in Verbindung mit einer Nichtbeherrschung der Landessprache,
d.h. des Kommunikationsmodus des engsten sozialen Umfeldes, bei
Migrantenfamilien genannt werden, der bei Kindern, die in den
Kindergarten kommen oder eingeschult werden, aufgrund der objektiv nicht
vorhandenen Bewältigungspotenz (keine Kompetenzen in der neuen Sprache)
entsteht.
Das Schweigen lässt sich nach dem Diathese-Stress-Modell als
Folgeerscheinung von intrapsychischen Insuffizienzpotenzen und
Negierungstendenzen gegenüber als bedrohlich empfundenen interaktionalen
Geschehnissen interpretieren mit der Diathese der Prädisposition des
Betroffenen bzw. der Familie für kommunikative Gehemmtheit und Angst.
Das Diathese-Stress-Modell ist das verbindende Element zwischen den
psychologischen und somatologischen Verursachungsfaktoren im Hinblick
auf das Verständnis des Schweigens und seine Pathogenese. 1997 wurde in
der damals 4. Auflage des Buches Mutismus - Zur Theorie und Kasuistik des totalen und elektiven Mutismus
erstmals der von den Klinischen Psychologen Davison & Neale begründete
Ansatz auf den Mutismus übertragen und weiterentwickelt, in der
Hoffnung, mit der paradigmatischen Verknüpfung von psychologischen und
somatologischen Verursachungsfaktoren die Wechselhaftigkeit von
Prädisposition und seelischer Verarbeitung von negativ empfundenen
Umweltkonfigurationen herausarbeiten zu können und damit dem Verständnis
dieses oft mystisch wirkenden Erscheinungsbildes ein weiteres Stück
näherzukommen.
Mit diesem Erklärungsmodell liegt ein Ansatz vor, mit dessen Hilfe
konzeptionelle Einseitigkeiten bei der Interpretation des Mutismus
vermieden werden können - wie etwa die Ausblendung medizinischer
Sichtweisen - und der den mannigfaltigen psychophysiologischen Faktoren
bei der Verursachung und Persistenz des mutistischen Verhaltens gerecht
zu werden versucht.
Weitere Informationen zum Diathese-Stress-Modell können Sie Heft 18 der Fachzeitschrift Mutismus.de entnehmen. Sie können das Heft bestellen, indem Sie auf das Titelbild klicken.