Mutismus vs. Autismus (ASS) 

Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung des selektiven Mutismus (ICD-11: 6B06) gegenüber der Autismus-Spektrum-Störung (ICD-11: 6A02) kann durch sechs Merkmale im Verhalten der Betroffenen vorgenommen werden: 

a) Angststörung

Während die Autismus-Spektrum-Störung eine tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörung darstellt, wird der Mutismus seit der Erstveröffentlichung des DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) unter die Angststörungen subsumiert.

b) Überwindbarkeit

Menschen mit ASS bleiben ein Leben lang mit der Grundbehinderung verbunden. Dagegen gehört der Mutismus zu den überwindbaren Störungsbildern und verfügt im Kindesalter über eine ausgesprochen gute Prognose. 

c) Konstanz

Menschen mit ASS verhalten sich gleichbleibend zurückgezogen, kontaktarm und abwehrend gegenüber Wahrnehmungsanreizen des Umfeldes und bevorzugen selbststimulierende visuelle und auditive Stereotypien, während Mutisten zwei völlig unterschiedliche "Gesichter" zu haben scheinen: hier der introvertierte, gehemmte Schweiger – dort der gelöste, anhängliche Lebhafte.

d) Emotionalität

Menschen mit ASS zeigen sich emotional meistens eher unterkühlt, können nur schwer einen gefühlsmäßigen Kontakt selbst zu ihren Eltern und Geschwistern aufbauen, machen sich schon als Säugling beim Hochheben durch die Mutter körperlich steif. Mutisten sind dagegen in den Situationen, in denen sie sich ungehemmt verhalten und lebhaft sprechen, überaus emotional, suchen geradezu den äußerst engen Kontakt zu einem Elternteil (häufige Mutter-Kind-Symbiose).

e) Sprachentwicklung

In schweren Fällen (Frühkindlicher Autismus bzw. Low Functioning Autism/LFA) entwickeln Menschen mit ASS aufgrund neurolinguistischer und neuromotorischer Störungen nur eine redundante, auf den Ebenen Artikulation, Prosodie, Grammatik-Morphologie, Semantik-Lexikon und pragmatisch-kommunikative Kompetenz auffällig abweichende Sprache. Die Schriftsprache bleibt ihnen häufig verschlossen oder ist allein über die "Gestützte Kommunikation" (Facilitated Communication/FC) anhand von Buchstabentafeln oder Buchstabentastaturen anzubahnen. Zusätzlich werden in die Gestützte Kommunikation auch Methoden und Ansätze der "Unterstützten Kommunikation" (Augmentative and Alternative Communication/AAC) mit Einsatz von Körpersprache und Gebärden integriert. Mutisten verfügen dagegen über eine mindestens altersentsprechende Entwicklung der (Schrift-)Sprache, benötigen also keine speziellen Konzeptionen einer Kommunikationsdidaktik. In vielen Fällen ist der schriftliche Ausdruck sogar überdurchschnittlich gut, da er aufgrund des situativen Schweigens (z.B. in der Schule) als das Kompensationsmittel eingesetzt wird.

f) Verhaltensstereotypien

Die Autismus-Spektrum-Störung wird durch die Wiederholung von Verhaltensmustern und Bewegungsabläufen flankiert, der Mutismus dagegen nicht. Hier fehlen wiederkehrende motorische Autostimulationen z.B. durch Finger-, Hand- und Ganzkörperbewegungen, Handlungsrituale sowie selbstisolierende Sonderinteressen (Auswendiglernen von Fahrplänen etc.).

Aus:
Hartmann, B.; Lange, M. (92024): RATGEBER Mutismus im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Überarbeitete und ergänzte Auflage. Idstein: Schulz-Kirchner. 


In Heft 24 der Fachzeitschrift Mutismus.de finden Sie weitere wichtige Unterscheidungsmerkmale. Mutismus ist keine Unterform der Autismus-Spektrum-Störung, sondern ein eigenständiges Störungsbild, das häufig eine Querverbindung zur Sozialen Angststörung und auch Depression aufweist. Die am 1. Januar 2022 in Kraft getretene neue ICD-11 verweist auf die Diagnose "selektiver Mutismus" (6B06) und ordnet sie den "Angst- oder furchtbezogenen Störungen" (6B0) zu.

Ausschlusskriterien nach der ICD-11 sind:

  • Schizophrenie (6A20)
  • Autismus-Spektrum-Störung (6A02)
  • Vorübergehender Mutismus als Teil von Trennungsangst bei jungen Kindern (6B05).