10 FAQs zum Mutismus
Wenn das eigene Kind sich nicht so verhält wie alle
anderen Kinder, ist das Erschrecken in der Familie oft sehr groß. Warum
schweigt mein Sohn oder meine Tochter in manchen Situationen? Zu Hause
spricht mein Kind doch ganz normal! Wie können Eltern ihrem Kind helfen?
Im Folgenden wollen wir einen kurzen Überblick über die häufigsten
Fragen beim Störungsbild Mutismus geben.
Frage 1: Was bedeutet überhaupt "Mutismus"?
Das Wort Mutismus wurde vom lateinischen "mutus"
abgeleitet, was so viel wie "stumm" bedeutet. Genau genommen ist der
Begriff "Mutismus" somit eigentlich falsch, denn Menschen, die unter
Mutismus leiden, sind ja nicht stumm im Sinne von "nicht fähig zu
sprechen". Wenn man einmal vom akinetische Mutismus (auch
posttraumatischen Mutismus) absieht, können eigentlich alle Menschen,
die mutistisch sind, per mündlicher Sprache, d.h. Sprechen,
kommunizieren. Sie tun es aber aufgrund einer starken Angst nicht.
Frage 2: Wie erkennt man Mutismus?
Gerade für die Eltern (s)elektiv mutistischer Kinder
ist das eines der größten Probleme, denn meist sprechen diese Kinder ja
in der vertrauten heimischen Umgebung ungehemmt mit allen Mitgliedern
der Kernfamilie. Dass diese Kinder aber im Kindergarten oder in der
Schule beharrlich schweigen, wenn sie von der Kindergärtnerin, einem
Lehrer oder dem Hausmeister angesprochen werden, wird von den eigenen
Eltern leider oft erst viel zu spät erkannt. Deswegen unsere Empfehlung:
Erkundigen Sie sich bitte immer detailliert danach, ob sich Ihr Kind
auch im Kindergarten bzw. in der Schule kommunikativ normal verhält.
Zeigt es dagegen eine oder mehrere der folgenden Auffälligkeiten, so ist
eine erhöhte Aufmerksamkeit angebracht:
- Schweigen gegenüber bestimmten Menschen, Menschengruppen oder in spezifischen Situationen.
- Quantitativ leicht oder stark erhöhtes Kommunikationsverhalten zu Hause, das sich beim Erscheinen von fremden Personen oder in fremden Situationen schlagartig einstellt.
- Angst, sich körperlich zu erproben (Fahrrad fahren, Schwimmen, Klettern).
- Angst, im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Sorge darum, wie man selbst auf andere wirkt.
- Angst vor körperlicher Nähe zu Fremden, Angst alleine zu schlafen, gelegentliches Bettnässen.
Frage 3: Ist mein Kind nur schüchtern oder mutistisch?
Schüchterne Kinder versuchen zwar auch manchmal, sich
gegenüber Fremden oder in ungewohnten, als unsicher empfundenen
Situationen, verbal zu entziehen. Sie antworten jedoch, wenn auch
gehemmt, sobald sie angesprochen werden, oder kommunizieren von sich
aus, wenn sie sich sicher und der Situation gewachsener fühlen. Bei
einem elektiv oder selektiv mutistischen Kind würde genau das jedoch
nicht passieren, denn diese Kinder entscheiden nicht bewusst darüber, ob
sie schweigen oder reden, sondern die Situation "selektiert" darüber,
ob der Sprechantrieb oder die Sprechangst die Oberhand behält.
Frage 4: Welche Ursachen kann der Mutismus haben?
Die große Mehrheit der mutistischen Kinder,
Jugendlichen und Erwachsenen hat eine genetische Disposition zur
Ängstlichkeit und Gehemmtheit. Man könnte sagen, sie haben die Tendenz,
auf ungewohnte Situationen und fremde Personen extrem ängstlich und
kommunikativ verschlossen zu reagieren, als Anlage geerbt.
Diese Kinder zeigen sehr oft schon im Kleinkindalter typische
Angstsymptome wie Trennungsangst von den Eltern, extrem klammerndes
Verhalten vor allem gegenüber der Mutter, wenig Drang zur körperlichen
Bewegung, Einschlafstörungen, Launenhaftigkeit, Wutanfälle, wenn etwas
nicht so läuft, wie sie es wollen, sowie regelrechte Weinanfälle. Mit
Beginn des Kindergartenalters, in dem man anfängt, sich zunehmend auch
außerhalb der Familie sozial zu engagieren, manifestiert sich ihre
fortdauernde Rede- und Kommunikationsangst als Mutismus, gepaart mit
Symptomen wie starre Körperhaltung, leerer Gesichtsausdruck, Vermeidung
der Blickfixierung, fehlendes lautes Lachen, Weinen und Husten.
Jüngere Forschungen haben weiterhin gezeigt, dass Kinder, die ein sozial
gehemmtes Verhalten zeigen, über eine verringerte Reizschwelle ihres
Angstzentrums im Gehirn, der so genannten "Amygdala", verfügen. Die
Amygdala (auch Mandelkern) sendet neuronale Impulse aus, sobald sich ein
Mensch in einer potenziellen Gefahrensituation befindet. Diese helfen
dem Einzelnen, sich vor der Gefahr besser zu schützen, schnell aus einer
gefährlichen Situation zu flüchten oder durch Veränderungen des
Stoffwechsels die Aufmerksamkeit der Sinne zu schärfen. Bei extrem
ängstlichen Menschen, also auch bei Mutisten, scheint dieses
Angstzentrum viel heftiger zu reagieren, als es eigentlich zum
Selbstschutz nötig ist. Es suggeriert dem Betroffenen eine
Angstsituation, die eigentlich gar nicht existiert. Der Angstreflex ist
zu fein justiert.
Bei Kindern mit (s)elektivem Mutismus werden die Angstreaktionen durch
soziale Interaktionen wie Spielplatz, Schule oder durch soziale
Zusammenkünfte ausgelöst. Auch wenn es scheinbar keinen logischen Grund
für diese Ängste gibt, sind die Gefühle für das Kind äußerst real.
Zum Vergleich: Eine Person mit einer Spinnenphobie empfindet reale,
lähmende Angst, wenn sie gezwungen wird, eine Spinne zu sehen oder gar
anzufassen. Diese Person kann gedanklich durchaus verstehen, dass die
Spinne harmlos ist, aber auch noch so viele Erklärungen werden die
Ängste und die körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, verschwitzte
Handflächen, Harndrang und den starken Vermeidungswunsch der
angstauslösenden Situation, nicht verringern.
Im Laufe der Zeit wird ein Kind mit Mutismus stumm aufgrund des
Unvermögens, mit dem beängstigenden Gefühl umzugehen, das entsteht, wenn
es einer Sprachanforderung ausgesetzt ist. Außer genetischen und
biologischen Faktoren geht man gegenwärtig auch von weiteren komorbiden
Einflüssen aus. So zeigt die Forschung, dass eine bedeutende Anzahl von
(s)elektiv mutistischen Kindern Sprach- und Sprechstörungen aufweist.
Darüber hinaus kommen ca. 21% der Betroffenen aus einem zweisprachigen
Umfeld. Ein stressreiches Umfeld kann ebenfalls ein Risikofaktor sein.
Keinen Beleg gibt es allerdings dafür, dass die Ursache des Mutismus mit
Missbrauch oder einem Trauma zu tun hat. Es ist wichtig, diesen Punkt
zu betonen, weil diese Vermutungen in der Vergangenheit favorisiert
wurden und leider bis heute noch präsent sind.
Die letztgenannte Auffassung ist oft sehr schädlich für Hilfe suchende
Familien. Obwohl keine wissenschaftlichen Studien für einen signifikant
gehäuften Missbrauch existieren, sind einige Eltern fälschlicherweise
des Missbrauchs angeklagt worden oder dazu gebracht worden, sich unter
Verdacht zu fühlen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Kinder mit
(s)elektivem Mutismus nicht häufiger Opfer sexueller Gewalt wurden als
Kinder, die altersgemäß kommunizieren.
Frage 5: Wer diagnostiziert den Mutismus?
Die Diagnose Mutismus wird normalerweise vom
Kinderarzt oder einem Kinderpsychologen erstellt. Hierbei sollte jedoch
nicht unerwähnt bleiben, dass selbst unter diesen Ärzten die Störung
Mutismus noch relativ unbekannt ist. Nicht selten mussten Kinderärzte
erst durch die Eltern über den Mutismus informiert werden. Häufiger
bekannt ist der Mutismus bei Sprachtherapeuten. Die Sprachtherapie
gehört seit Anfang der 90er Jahre neben der Psychiatrie und Psychologie
als dritte Disziplin zu den Fachrichtungen, die Mutismus diagnostizieren
und Schweiger behandeln.
Frage 6: Die Diagnose Mutismus ist gestellt. Wie geht es nun weiter?
Der Mutismus ist ein anerkanntes, eigendynamisches
Störungsbild mit gravierenden psychosozialen Konsequenzen. Damit das
betroffene Kind nicht in eine Lebenssackgasse gerät, sollte früh mit
einer Behandlung begonnen werden. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit der
sozialen Situation, auch wenn die Kinder im Kindergarten- bzw.
Grundschulalter aufgrund ihrer sensiblen, defensiven Wesensart durchaus
beliebt sein können.
Spätestens im Jugendalter gerät der mutistische Schüler in eine
Außenseiterposition, wird er zum Fremdkörper im eigenen Klassenverband.
Auf der weiterführenden Schule entwickelt sich der Mutismus zudem zu
einem ausgeprägten Schulproblem. Reduzierte Schulabschlüsse und
Berufsperspektiven sind in der Regel die Folge. Und schließlich: Ab der
Pubertät, so die Erfahrung aus der Praxis, steigt die Kurve der
Kombination von Mutismus und Depression sowie von Mutismus und
Sozialphobie (häufig auch Schulphobie) steil an.
Eine erhöhte Suizidalität ist nicht selten. Damit eine derartige gesamtpersonale Gefährdung gar nicht erst entsteht, sollte bereits im Kindergartenalter mit einer Therapie begonnen werden. Befindet sich der Betroffene im Schulalter, so gilt für jede Stufe (Primarstufe, Sekundarstufe I und II) die Notwendigkeit einer schulbegleitenden Therapie. Wichtig: Auch im Erwachsenenalter ist eine Überwindung des Mutismus möglich.
Frage 7: Spieltherapie, Familientherapie, Sprachtherapie, Verhaltenstherapie, Psychiatrie? Wer blickt da noch durch?
Generell gilt: Die Therapieform richtet sich nach der
abgeleiteten Primärätiologie (Erst- bzw. Hauptursache). Wird der
Mutismus als Folge eines frühkindlichen Traumas interpretiert (leider
noch häufig), so wird in der Regel eine analytische Spieltherapie
empfohlen mit dem Ziel, diese verdeckte seelische Verletzung
spieltherapeutisch aufzuspüren. Nimmt man dagegen einen latenten oder
offen ausgetragenen Konflikt innerhalb der Familie an, so stellt die
Familientherapie mit der Aufarbeitung der jeweiligen Beziehungsdynamik
sowie der Aufdeckung von Ehekrisen und unbewussten
Projektionsmechanismen zwischen den Generationen die geeignete
Therapieform dar.
Die Sprachtherapie unterscheidet sich von den beiden erstgenannten
Vorgehensweisen dadurch, dass sie nicht rückwärtsgewandt nach Traumata
bzw. Konflikten in der Entwicklung der Schweiger sucht.
Sprachtherapeutisches Handeln impliziert die aus der Familien- und
Patientenanamnese ableitbare Annahme, dass es sich bei Mutismus um ein
dispositionell bedingtes übersteigertes Angstempfinden handelt, das von
Beginn der Entwicklung an den betroffenen Menschen in seiner sozialen
und vor allem kommunikativen Entfaltung einschränkt.
Der Ist-Zustand des Betroffenen wird damit zum Ausgangspunkt einer in
kleinen Schritten vorgenommenen Neukonfiguration von Sprechen und
emotionaler Bewältigung von sozialen Situationen (in der Gruppe). Dabei
wird folgende Didaktik berücksichtigt: Der Betroffene macht zunächst
Geräusche nach oder sagt dem Therapeuten den Anfangsbuchstaben eines
Bildsymbols. Es folgen Silben, später Ein-Wort-Antworten, dann kurze
bzw. längere Sätze, schließlich das Vorlesen und der Schritt vom
zielorientierten zum freien Sprechen. In der Endphase der Behandlung
wird die Praxis verlassen und die Bewältigung von realen
Alltagssituationen geübt (In-vivo-Therapie).
Die Verhaltenstherapie geht beim Mutismus von einem erlernten Verhalten
aus, das sich durch neue Verhaltensmuster auch wieder verlernen lässt.
Durch ein ebenfalls kleinschrittiges oder konfrontatives Vorgehen
erfolgt eine Angstdesensibilisierung, um gefürchtete Situationen besser
bewältigen zu können (siehe auch Fading und Shaping bei der
Sozialphobie). Die Psychiatrie nimmt hinsichtlich der Entstehung des
Mutismus neurobiologische bzw. biochemische Faktoren an (s.o.).
Durch spezielle Antidepressiva, die auf den Serotoninstoffwechsel
einwirken, können Ängste reduziert werden. In den letzten Jahren mehren
sich die Erfolge einer sprachtherapeutischen Behandlung, die im Jugend-
und Erwachsenenalter, wenn erforderlich, medikamentös unterstützt werden
kann. Die Entscheidung für eine der o.g. Therapieformen sollte, wie
anfangs dargestellt, immer ursachengeleitet vorgenommen werden. Ein
alleiniges Sich-Ausprobieren am Schweigenden ist strikt abzulehnen und
fördert das ohnehin schon vorhandene Misstrauen gegenüber selbst
ernannten "Fachleuten".
Frage 8: Hilft Homöopathie bei Mutismus?
In jenen Fällen, in denen homöopathische Mittel erfolgreich eingesetzt wurden, erwiesen sich angstlösende Konstitutionsmittel als effizient.
Frage 9: Gibt es Medikamente, die helfen können?
Bei der Einbettung des Mutismus in eine schwere Depression und/oder Sozialphobie kann eine Indikation für einen Einsatz so genannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI = Selective Serotonin Reuptake Inhibitors) bestehen. Diese spezielle Gruppe der Antidepressiva führt zu einem Anstieg des Botenstoffs Serotonin im Hirnstoffwechsel, dessen zu niedrige Konzentration mit Depressionen, Angsterkrankungen, Aggressivität, Zwangsstörungen, Impulskontrollstörungen, Persönlichkeitsstörungen (Borderline), posttraumatischen Belastungsstörungen, Suizidalität und schizophrenen Psychosen in Verbindung gebracht wird. Eine medikamentöse Flankierung sollte immer in einen gesamten Behandlungsplan integriert werden.
Frage 10: Die Angst überwinden, indem man sich ihr aussetzt?
Was zunächst wie ein völliger Widerspruch klingt, ist tatsächlich eine häufige Behandlungsmethode, eine Angststörung zu therapieren. In der Psychologie nennt man das entweder "Angstreduktion durch systematische Desensibilisierung" oder, je nach Intensität, "Konfrontationstherapie". Indem der Betroffene systematisch und durch Lob unterstützt regelmäßig den angstauslösenden Situationen ausgesetzt wird, erfolgt sukzessive eine Hinführung zur Unempfindlichkeit.
Fazit
Mutismus muss kein Schicksal sein. Wenn er rechtzeitig
therapiert wird, sind die Chancen, ihn zu überwinden, gut bis sehr gut.
Wichtig dabei ist es, alle Menschen, die mit dem mutistischen Kind,
Jugendlichen oder Erwachsenen zu tun haben, umfassend über dieses
Störungsbild zu informieren. Genau aus diesem Grund wurde die Mutismus
Selbsthilfe Deutschland e.V. 2004 ins Leben gerufen. Bitte helfen Sie
uns, diese umfassende und schwierige Aufgabe wahrzunehmen. So können Sie
unserem Verein z.B. beitreten oder uns finanziell oder ideell unterstützen.
Aus:
Hartmann, B.; Lange, M. (2007): Mein Kind hat Mutismus. Die zehn
wichtigsten Fragen. Das Mutismus-Jahrbuch 2007. Neuss: Mutismus
Selbsthilfe Deutschland e.V. (s. Publikationen)